Liebe überall

 

„And what about you guys, are you single?” Da ist sie, diese Frage, harmlos gestellt von jemandem, den ich erst seit ein paar Stunden kenne. Eine ziemliche Trigger-Frage für mich – was mein Gegenüber natürlich nicht wissen kann.

Ich bin in Skopje, wenige Stunden zuvor habe ich bei einem Ausflug in das Matka-Canyon Tara kennengelernt, nun essen wir zusammen mit Celine zu Abend, die ich zwei Tage zuvor auf der Busfahrt von Kosovo nach Nordmazedonien getroffen habe. Celine ist Niederländerin und 38 Jahre alt, Tara britisch-pakistanisch und 25. Die beiden heißen eigentlich anders, aber ich möchte nicht einfach ohne ihr Wissen über sie schreiben, deswegen gebe ich ihnen in diesem Text andere Namen.

Wir alle drei sind allein unterwegs, wir alle drei haben unsere Jobs gekündigt, um zu reisen und uns neu zu orientieren. Wir alle drei mögen das Alleine-Essen am Alleinreisen nicht, weswegen wir an diesem Abend gemeinsam in einem Restaurant an der Uferpromenade des Vardars sitzen.

Und ja: Wir alle drei haben keinen Freund, wie wir nun feststellen.

Ich könnte zwar erzählen, dass ich mich erst vor ein paar Tagen von jemandem in Tirana verabschiedet habe, mit dem ich eine Weile zusammen gereist bin. Jemand, den ich schon etwas länger kenne, der beim Aufwachen nach meiner Hand griff, mir Kaffee ans Bett brachte, Teile meines Gepäcks den Berg hochgeschleppt hat. Jemand, mit dem ich mich durch die albanische Länderküche gegessen habe, lesend und händchenhaltend in Cafés saß, mit verhakten Beinen Hörbuch hörend in den Bussen quer durch das Land.

Ich könnte erzählen, dass wir darüber geredet haben, ob wir zusammen sein wollen. Dass wir diese Frage erstmal offengelassen haben. Dass ich aber weiß: So wirklich will ich das gar nicht. Weil es nicht so richtig passt – auch wenn wir eine besondere Verbindung haben. Und dass das in Ordnung für mich ist, dass ich nicht tieftraurig deswegen bin.

Das alles könnte ich erzählen. Aber wir kennen uns nicht und dies ist kein Raum für diese Geschichte.

 

 

“But are you looking for someone? Are you dating?”, fragt Tara weiter.

Nein, sagt Celine. “If it happens, it happens”, ergänzt sie dann. Aber sie sucht nicht danach. Kinder will sie ohnehin nicht, deswegen gibt es keinerlei Grund zur Eile.

Nein, sage auch ich. „Natürlich hätte ich nichts dagegen, meinem Seelenverwandten zu begegnen“, sage ich weiter. Aber momentan möchte ich mich lieber auf mich selbst konzentrieren. Ich möchte erst noch eine Weile weiterreisen, mir dann in Ruhe einen neuen Job suchen und ein neues Zuhause, in dem ich mich so richtig wohlfühle.

Sie nicken verständnisvoll.

Und dabei verstehen sie so wenig.

Ich könnte von meiner jahrelangen Suche erzählen,
von tollen Treffen und unangenehmen,
von vergessenen Namen, und von Menschen, die mich verändert haben, an die ich mich vermutlich für immer erinnern können werde.
Ich könnte von berauschenden Momenten erzählen, für die man lebt, von denen man weiß, dass sie die schönen Erinnerungen werden, an die wir zurückdenken, wenn wir alt sind.
Und von großen Enttäuschungen, von Ignoriert-Werden und Verlust.

Ich könnte von jemandem erzählen, mit dem ich über ein halbes Jahr zusammen war und der sich einen Monat nach meinem Umzug in eine andere Stadt nicht mehr gemeldet hat, trotz zahlreicher Kontaktversuche meinerseits.

Ich könnte von einer Begegnung erzählen, die mittlerweile fast ein Jahr zurückliegt und mich immer noch wahnsinnig mitnimmt, weil ich durch sie die Zuversicht verloren habe, dass es einen passenden Menschen da draußen für mich gibt; dass ich seither nicht mehr in Lage bin, Interesse dafür zu entwickeln, wer mein unbekanntes Gegenüber ist – weil ich die Vergeblichkeit so sehr fürchte.

Aber auch das erzähle ich alles nicht. Es ist zu groß und tief und persönlich für dieses Treffen. Es ist ein deprimierendes Thema; nichts, was für eine schöne Stimmung sorgt.

 

 

Tara erzählt dagegen von jemandem, der sie beschäftigt.

Die Kurzform geht in etwa so: Emotional und generell unreifer Typ, der nicht weiß, was er will, will sich auf nichts einlassen, aber trotzdem Aufmerksamkeit und Bestätigung haben.

Celine verdreht die Augen.
Solche Geschichten hat sie vermutlich schon etliche Male gehört.
“Let him go”, sagt sie. “He’s stupid and childish.”

Ja, das stimmt, sagt Tara. Ja, ich bleibe lieber für mich.

Ich bleibe lieber für mich. Wie sehr ich mir wünschte, das hätte ich mir auch vorgenommen, vor ein paar Jahren, als ich 29 war und für die Arbeit ins Ausland gezogen bin: hinein in ein Leben, das mich völlig überfordert hat und das ich in gewisser Weise gar nicht wollte.

Damals hatte ich versucht, meine Einsamkeit mit Dates zu ersticken. Heute weiß ich, dass das ein Fehler war, eine falsche Herangehensweise. Ich hätte mich lieber auf mich selbst konzentrieren und die Zeit mit mir selbst genießen sollen. Es wäre mir wesentlich besser ergangen. Ich hätte lauter schöne Erinnerungen sammeln können, statt jene der Zurückweisung, die meine Einsamkeits- und Versagensgefühle noch viel mehr verstärkten.

 

Wir verabschieden uns später am Platz Mazedoniens, von dem sternförmig die Straßen abgehen und in dessen Mitte eine riesige Statue Alexander des Großen thront.

Skopje ist die Stadt, die wortwörtlich in ihrem Inneren einen Mann auf ein Podest stellt, der nichts damit zu tun hat, wer sie ist und sein könnte. Einen Menschen, mit dem sie gar nicht zusammengehört und der sie davon abhält, ihre Einzigartigkeit zu entdecken und voll auszukosten.

 

 

Ein paar Wochen später in Paris: Ich stehe auf dem Platz vor der Grande Halle de la Villette.

Es ist Vormittag, ich habe eben ein warmes Pain au Chocolat verdrückt und halte nun meinen ersten Kaffee des Tages in den Händen.

Hin und wieder bricht die Sonne durch die November-Wolkendecke. Dann schließe ich die Augen und strecke mein Gesicht gierig in die warmen Strahlen. Ich merke sofort, dass ich mich besser fühle. In meiner Pariser Unterkunft ist es sehr düster und meine Stimmung wird dann ebenso.

Eine Freundin ruft an: Krisengespräch. Sie und ihr langjähriger Freund haben Schluss gemacht, mal wieder. Ich tröste und gebe Rat.
Ich sage ihr, genau aufzuschreiben, was alles nicht gepasst hat. Alles, was ihr schlechte Gefühle gegeben hat. Und aufzuschreiben, welche Art von Partner sie sich wünscht und inwiefern er das nicht ist.

„Aber Eva“, fragt sie dann, „glaubst du denn, dass du irgendwann nochmal jemanden findest?“

Ich schweige kurz. Ich will nicht, dass diese Frage zu tief in mich hineinsickert, denn sie ist Gift. Es ist eine Frage, die manche Menschen unbedarft stellen und die ziemlich weh tut.

Außerdem weiß ich ja: Sie will meine Zuversicht hören – die ich an vielen Tagen aber nicht habe, und dieser Tag ist eher einer davon.

„Ich weiß es nicht“, antworte ich dann. „Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich kann es nicht wissen. Aber ich arbeite daran, dass ich es mir nicht mehr so sehr wünsche.“

Ich arbeite daran, auch allein vollkommen glücklich zu sein. Mir das Leben mit mir selbst so schön und spannend wie möglich zu gestalten.

Und das rate ich ihr auch.

 

Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen.

Ich habe Jahre dafür gebraucht,
viele Jahre und viele Enttäuschungen.
Ich habe wirklich lange gebraucht.

Aber irgendwann,
während zahlreicher Gespräche in Düsseldorf, Hamburg und Brüssel,
während meiner vielen Wohnortwechsel,
während ich 30 wurde und noch älter,
während einer Pandemie, die kam und ging,
während meiner stundenlangen Spaziergänge auf den Wegen so vieler Orte,
während zahlreicher gelesener Bücher und gehörter Podcasts,
während meiner Reisen in so viele Länder,
während der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie mein Leben aussehen soll,
und nach einem Neuanfang,
habe ich es verstanden.

Dass ich bereits so viel Liebe in meinem Leben habe.

Dass sie da ist, auch wenn ich allein bin.

 

 

Sie ist da, wenn ich im Sprühregen die Feldwege entlang jogge.
Wenn die Sonne die Wolkendecke durchbricht und das Grau in Gold verwandelt.

Sie ist da, wenn die Lichter einer Stadt sich im Wasser spiegeln
und der Mond in seiner schönsten Sichelform im Himmel liegt.

Sie ist da, wenn ich Tomaten in Safranbutter schmelze, Burrata zerteile, und im Ofen die Aubergine röstet.
Sie ist da, wenn ich mich durch die Küchen der Welt esse, in ausländischen Supermärkten stöbere und mich freue, wenn ich Thai-Basilikum finde.

Sie ist da, wenn ich ein Flugzeug besteige, es auf die Startbahn zurollt, beschleunigt und abhebt.
Sie ist da, wenn ich die Passkontrolle eines Landes passiert habe und gespannt in meinem Reisepass nachsehe, wie der Stempel aussieht und wo der Grenzbeamte ihn platziert hat.

Sie ist da, wenn ich durch die Regalgänge von Buchhandlungen und Bibliotheken streife.
Wenn ich am Meer beobachte, wie die Wellen brechen und inwiefern sich das vom Vortag unterscheidet.

Sie ist da, wenn ich in einem Gemälde Aspekte meines Lebens erkennen kann und wenn ich wiederum meinen Kummer in Kreativität verwandle.

Sie ist da, wenn ich ein buntes Kleid anziehe, Lippenstift auftrage und das Haus verlasse, um in einem Café zu schreiben. Sie ist da, wenn ich meine Texte in die Welt hinausschicke.

Sie ist da, wenn ich nach dem Balletttraining mit dem Fahrrad durch den Abend meiner neuen Stadt fahre. Wenn ich am Sonntagmorgen durch mein schönes Wohnviertel spaziere, das gerade erst erwacht, auf dem Weg zu meinem Yogakurs.

Sie ist da, wenn ich durch Tagebuchseiten vergangener Jahre blättere und meinem früheren Ich dankbar bin für jeden einzelnen Eintrag. Sie ist da, wenn ich jüngere Varianten von mir betrachte und erkenne, wie sehr ich mich weiterentwickelt habe.

Sie ist da, wenn ich mir bewusst mache, dass sehr viel von dem, was ich mir für mein Leben gewünscht habe, bereits mein Leben ist.
Wenn ich sehe, dass alles an seinen Platz fällt. Es nur manchmal ein paar Jahre länger dauert als von mir gewünscht.

 

Ich habe so viel Liebe für das Leben und die Welt in mir.
Nur die Sehnsucht nach einem besonderen Menschen hat lange Zeit dafür gesorgt, dass ich das nicht erkennen konnte.
Dass ich nicht erkennen konnte, dass Liebe überall ist.

Sie ist in allem, das ich tue;
in allem, das ich mag.

Sie ist mein Leben.
Sie ist ich selbst.

Liebe bin ich selbst.

 

 

Fotos: Eva Fischer, Brüssel

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Ein Gedanke zu „Liebe überall

  1. Sehr schöner Text, vielen Dank dafür! Ich muss sagen, und das soll keinesfalls abwertend sein, für mich hat er was von einem biblischen Psalmen. Ein Dankeshymnus in modern.

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