Über meine derzeitige Wohnsitzlosigkeit und die Frage, wo ich leben will

Ein Bild aus meiner derzeitigen Brüsseler Interimswohnung. Ich habe seit mittlerweile anderthalb Jahren keinen festen Wohnsitz mehr. Als im Sommer 2020 mein Brüsseler Arbeitsvertrag ausgelaufen ist, habe ich fast alle meine Möbel verkauft und mein übriges Hab und Gut zu meinen Eltern gebracht (Kinder wird man halt nie wieder los, sorry). Ich wollte in Düsseldorf keine neue Wohnung mieten, da ich wusste, dass ich dort nicht bleiben will.

Seitdem habe ich immer zur temporären Untermiete gewohnt – ein paar Monate in Düsseldorf, ein paar Monate in Hamburg, seit ein paar Monaten wieder in Brüssel. „Willst du nicht wieder eine feste Wohnung haben?“, werde ich oft gefragt. Die Antwort lautet Jein.

Einerseits ist es sehr befreiend, jederzeit sagen zu können: Reicht mir jetzt hier. Ich gehe. Tschüss.

Andererseits ist da schon der Wunsch nach einem Zuhause. Einem Ort, an dem ich es mir richtig schön einrichte, wo ich alles so gestalte, wie ich es mag, wo ich meine Bücher sortieren kann, meine Öl- und Gewürzkollektion erweitere, endlich einen persischen Reiskocher anschaffe, für Freunde Dinnerpartys gebe, regelmäßigen Hobbys mit festen Terminen nachgehe – weil ich weiß, dass ich bleibe.

Ich weiß nur einfach nicht, wo dieser Ort sein soll. In Hamburg, wo meine besten Freundinnen wohnen, ich die meisten Menschen kenne, ich diese Stadt ja ohnehin liebe und immer wieder als die schönste Deutschlands bezeichne? Hamburg ist eine ganz besondere Stadt in meinem Leben: Dorthin ging ich, als ich aus dem Elternhaus ausgezogen bin, dort sammelte ich meine ersten Berufserfahrungen; es ist „die Stadt, in der man erwachsen geworden ist“, wie es eine Kollegin einmal beschrieben hat. Es ist einer der Schlüsselorte meines Lebens.

Aber diese Mietpreise und allgemein der Wohnungsmarkt schrecken mich sehr davon ab, mir dort wieder eine richtige Wohnung zu suchen. Außerdem ist Hamburg ist bisschen weit weg von meiner Familie, die im Umkreis Düsseldorf lebt.

Also lieber Düsseldorf? Da gibt es zu wenig potenzielle Arbeitgeber – was einer der Hauptargumente für mich gegen einen dauerhaften Wohnsitz dort ist. Und manchmal denke ich ebenfalls: Dort bin ich zu nah dran an den Erlebnissen aus meiner Kindheit und Jugend, an die ich nicht erinnert werden will.

Zudem kehre ich dann ein Problem einfach nur um: Die Familie ist zwar in der Nähe, die guten Freunde, die mich seit über 10 Jahren kennen, aber rund 500 Kilometer entfernt.

Und dann ist da noch Brüssel, die Stadt der tausend Möglichkeiten, die aber auch die Stadt der Workaholics ist, sodass die tausend Möglichkeiten tausend Möglichkeiten bleiben.

Es war einer meiner Vorsätze für 2021: Mir darüber klar zu werden, in welcher Stadt ich leben will – zumindest für längere Zeit.

Es gab Momente, in denen ich dachte: Es soll definitiv Hamburg sein. Andere, in denen ich überlegte, ob ich es mal mit einer ganz neuen Stadt versuchen sollte; eine, in der die Mieten nicht so hoch sind, dass man Vollzeit arbeiten muss, um sie bezahlen zu können, zum Beispiel Wuppertal oder Rostock. Aber eigentlich möchte ich nicht mehr in eine Stadt ziehen, in der ich absolut niemanden kenne.

Und dann ist da noch mein inneres Hin und Her mit Brüssel, die Frage, ob ich mein Leben dort bald loslassen soll, oder ob ich mir noch etwas mehr Zeit einräume, um zumindest noch hinter ein paar mehr der tausend Möglichkeiten einen Haken zu setzen.

Hin und wieder ist in der Tombola der möglichen Wohnorte noch eine weitere Stadt: Berlin. Dort gibt es die interessantesten Jobangebote. Dort findet das künstlerische, kulturelle und politische Leben unserer Zeit statt, und manchmal möchte ich, dass es Teil meiner Lebensgeschichte ist, auch mal für eine Weile in Berlin gewohnt zu haben.

Aber noch stärker als bei Hamburg schreckt mich der katastrophale Wohnungsmarkt ab – und auch die Größe der Stadt, die vielen Menschen auf einem Haufen. Außerdem steht im vorletzten Satz der Knackpunkt: „für eine Weile“. Ich bin müde von den ständigen Umzügen und möchte für eine längere Zeit nichts ein- und auspacken müssen. Ich möchte ankommen.

Als ich auf das Buch „Zuhause. Auf der Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen“ von Daniel Schreiber stieß, schien es mir wie für mich geschrieben. In diesem 136-seitigen Essay schreibt er von den drei großen Wohnorten seines Lebens: London, New York und Berlin. Und von der Frage, was ein Zuhause ist, und wie man den Ort, an dem man zu Hause sein will, findet.

Er zitiert den britischen Essayisten Pico Iyer, wonach das Gefühl des Zuhauseseins früher mit dem Ort, aus dem wir stammen, verbunden war; nun aber einen Ort in unserer Vorstellung meint, zu dem wir hinwollen. Ihn zu finden und uns ein Zuhause aufzubauen, ist ein lebenslanger Prozess. Bei dem auch die Zeit einen entscheidenden Einfluss hat: Erst wenn man an einem Ort für eine längere Weile sei, dort sein eigenes alltägliches Leben lebe, zitiert Schreiber wiederum den chinesisch-amerikanischen Anthropologen und Geographen Yi-Fu Tuan, fühle man sich dort zu Hause. Und zwar unabhängig davon, wo dieser Ort ist. Denn jeder Ort ist erst einmal nur ein Ort. Damit er unser Ort wird, müssen wir ihn dazu machen.

Seinen eigenen Überlegungen zufolge, heißt „ein Zuhause zu finden vielleicht nichts weiter, als eine fragile Balance zwischen den Impulsen des Da-Bleibens und des Weg-Wollens zu finden, zwischen alten Dämonen und neuen Ufern.“ Der Ort, an dem wir ankommen, ist deswegen „zuallererst ein innerer Ort, den wir uns erarbeiten müssen“.

Wir dürfen nicht denken, dass es irgendwo den perfekten Ort für uns gibt, an dem wir das perfekte Leben führen werden, und wir diesen Ort nur finden müssen. Schlechte Zeiten gehören überall dazu, und immer wird uns etwas fehlen. Dazu noch ein tröstlicher Satz von ihm: „Vielleicht führen Unglück und Ratlosigkeit ohnehin ihr eigenes Leben, haben ihre eigene Dauer, beanspruchen ihren eigenen Raum und finden somit auch ihr eigenes Ende.“

Natürlich: Nach dem Lesen des Buches weiß ich immer noch nicht, wo ich wohnen soll, welche Stadt die eine Stadt sein soll, in der ich mich einrichte. Momentan plane ich, zumindest noch für ein paar Monate in Brüssel zu bleiben. Wenn ich mich im Frühling oder im Sommer danach fühle zu gehen, gehe ich; wenn nicht, dann bleibe ich noch ein bisschen.

Aber ich weiß: Wenn ich irgendwann die Entscheidung treffe, länger irgendwo bleiben zu wollen – vielleicht ist das ja 2022 der Fall – wird es schon die richtige Stadt sein, solange ich mich zugleich entscheide, mein Leben dort anzunehmen. So schreibt Schreiber auch: „Mit meiner unbewussten Vorstellung, dass ich ohnehin bald weiterziehen würde, an einen Ort, von dem ich glaubte, mir mehr versprechen zu können als von dieser Stadt und diesem Land, hatte ich mir eine Möglichkeit realer Zufriedenheit vorenthalten.“ Etwas, was ich bereits bei mir selbst beobachtet habe: Wenn ich wusste, dass ich nicht von Dauer irgendwo bleibe, ist es mir immer schwer gefallen, mich auf eine Stadt einzulassen.

Zum Schluss noch ein paar weise Worte von Schreiber zum Für-immer-Merken, da sie sich nicht nur auf die Wohnort-Suche beziehen: „Manchmal ist man nicht in der Lage, zu erkennen, dass so etwas wie Zufriedenheit möglich ist, weil diese Zufriedenheit so klein wirkt neben dem Glück, das man sich wünscht.“

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