
Fast drei Wochen Beirut? Was mache ich denn dort so lange? Diese Frage wurde mir häufiger gestellt: von anderen Travellern, von Einheimischen – und bisweilen habe ich mich das auch selber gefragt. Beirut hat man nämlich innerhalb weniger Tage gesehen.
Aber, so mein Vorhaben: Ich will ja nicht nur reisen, schnell einen Ort nach dem anderen abhaken und den Sehenswürdigkeiten hinterherjagen, sondern interessante Wege mehrmals abgehen. Tief hineinlaufen in die Wohnviertel. Im Café sitzen und schreiben.
Ich will eintauchen in eine ferne Stadt.
Und dafür braucht man Zeit.
Es gibt natürlich einen bekannten Begriff dafür, welche Art des Reisens dies ist: Slow Travelling.
Dabei geht es darum, sich viel Zeit für einen Ort zu nehmen. Sich auf diese Weise ein bisschen wie ein Bewohner des Ortes zu fühlen und nicht wie ein Tourist. Es geht darum, auch einfach mal in Parks oder Cafés herumzusitzen und zu lesen, auf dem Markt Essen einzukaufen und selbst zu kochen.
Es geht darum, in der Fremde möglichst vertraut zu werden, an dem gleichen Ort wiederkehrende Dinge zu tun, mehrmals die gleichen Wege zu gehen, Routinen zu entwickeln.
Wäre ich tatsächlich nur für ein paar Tage in Beirut gewesen, würde ich mich vermutlich hauptsächlich an eine laute, stressige Stadt erinnern, in der es nicht sonderlich mehr zu sehen gibt als zerfallene Häuser, Stromkabelsalate, Verkehrschaos und einen völlig vermüllten Strand.
Doch durch die vielen, vielen Tage, die ich dort verbrachte, wurde Beirut zu so viel mehr.
Ich entwickelte meine Routinen: Den ersten Kaffee am Morgen trank ich mal auf dem Südost-Balkon der Wohnung, mal auf dem nach Westen gelegenen; manchmal trank ich ihn auch auf meinem Bett mit offener Balkontür, untermalt vom Sound der Badaro Street, auf der ich wohnte.
Morgens erstmal in Ruhe Kaffee trinken und dabei lesen: Das ist seit vielen, vielen Jahren mein morgendliches Ritual. Eine immer wiederkehrende Szene in meinem Leben, in immer anderen Farben. Die Beiruter Version davon wurde besonders schön.
In den Straßen meiner Nachbarschaft
Meinen zweiten Kaffee habe ich dann etwas später in einem Café getrunken und währenddessen geschrieben.
Das Viertel rund um die Badaro Street wurde zu „meinem“ Viertel. Ich hatte ein Lieblingscafé, wo sie mich erkannten, wenn ich mal wieder am Tresen stand und einen Cappuccino bestellte. In diesem Lieblingscafé hatte ich einen Lieblingsplatz: Die beiden Treppen hoch und dann vor einem Fenster mit dem Blick auf südländische Fassaden.
In dem kleinen Supermarkt neben meinem Wohnhaus erkannten sie mich ebenfalls und wussten, dass ich nicht will, dass meine Einkäufe in eine Plastiktüte gepackt werden.
Sonntags fand um die Ecke immer ein kleiner Markt statt. Dort gab es einen tollen Halloumi-Stand und ein Frau, die armenisches Essen verkaufte. Es war schön, mehr als einmal dort zu sein; schön, etwas, was mir gut schmeckte, nochmal kaufen zu können; schön, mich durch verschiedene Käsesorten durchprobieren zu können.
Als bei meinem ersten Besuch der Halloumi mit den Cranberrys ausverkauft war, sagten sie mir, ich solle nächste Woche wiederkommen. Das tat ich und ergatterte schließlich die Cranberry-Variante.
Ich hatte meine Lieblingsläden: für Kekse, für Datteln, für Käse. Meine Lieblingsbrotfladen, meinen Lieblingshummus, meinen Lieblingshonig. Meine Lieblingskaffeekanne in der Küche.
Überhaupt habe ich die Wohnung geliebt, in der ich gewohnt habe. Die kühlen Fliesen unter den Füßen. Die bunten, alten Möbel. Die Katze, die dort herumstromert. Dass immer alle Fenster und Balkontüren offenstehen, weil es ohnehin nicht regnet.
Sehr, sehr viele Monate ist meine Zeit in Beirut nun her. Seitdem war ich in der Türkei und in Moldau, in Finnland, Estland, Lettland und Litauen, in Serbien, Kosovo, Albanien und Nordmazedonien, in Marokko und Tunesien und für anderthalb Wochen in Paris. Und immer noch sage ich, dass Beirut das absolute Highlight meines Reise-Sabbaticals war.
Dabei hätte ich Beirut hassen können.
Ich hätte Beirut abgrundtief hassen können.
Diese vermüllte, laute, dreckige, dysfunktionale Stadt. Diese bestialische Hitze, die auch bleibt, wenn die Sonne fort ist. Das ständige Angehupt-Werden, alle paar Sekunden, über den gesamten Tag hinweg. Die organisierten Bettelbanden, die einen die Straße entlang verfolgen. Dass man sich auch nach dem Duschen immer noch nicht richtig sauber fühlt. Der Hausflur, in dem tote Kakerlaken liegen.
Und die Mücken, die nachts über einen herfallen, unbeeindruckt von dem Anti-Mücken-Spray; diese schrecklichen Biester, die kommen, wenn der Strom weg ist und somit der Ventilator und das Anti-Mücken-Gerät ausgeschaltet sind, und man auch kein Licht einschalten kann, um sie zu jagen.
Aber stattdessen vermisse ich die Wege vor der Wohnung, ich vermisse mein Lieblingscafé, den Supermarkt, all die Halloumi-Varianten, den Geruch von Zatar beim Vorbeilaufen an einer Bäckerei.
Ich denke an die köstlichsten Datteln, die ich je gegessen habe, mit einer karamelligen, rauchigen Note. Ich denke an die warmen Abende auf dem Balkon, an den Muezzin-Gesang in der Ferne, der sich mit der Musik der Bars und dem Dröhnen der Generatoren vermischt. Und an die unglaubliche Stille und Dunkelheit, die sich über die Stadt senkt, wenn irgendwann nach Mitternacht bis zum Morgengrauen der Strom abgestellt ist.
Schon als ich noch vor Ort war und die Zeit ablief, wusste ich, dass mir Beirut fehlen wird. Dass mir mein kurzes Leben in Beirut fehlen wird.
Schließlich war es so weit: Ich reiste ab.
Zwei Stunden Flugzeit nach Istanbul, dann saß ich 1500 Kilometer von Beirut entfernt in einem Restaurant; das Ufer des Bosporus in der Nähe, vor mir ein Teller mit Köfte und Joghurt. Der Tag war vergangen, der Sommerabend wurde blau und dann schwarz, als ich mich plötzlich so wahnsinnig traurig fühlte.
Weil dies kein Abend mehr war, an dem ich in die Beiruter Wohnung zurückkehren würde, erschöpft von meinen kilometerlangen Streifzügen durch die Stadt.
Weil dies kein Abend mehr war, an dem ich mich mit meinen Mitbewohnerinnen Rita und Gabriele darüber austauschte, wie wir den Tag verbrachten hatten.
Weil es diese Abende nie wieder geben würde und ich die beiden nicht mehr in meinem Leben hatte.
Weil ich am nächsten Morgen nicht mehr in Beirut aufwachen würde.
So viele Lieblingsplätze, die wir noch entdecken können
So ist das wohl: Zu Gewinn gehört auch Verlust, zum Finden gehört Verlieren, zum Erleben von schönen Momenten gehört ihr Vermissen, wenn sie vorbei sind. Aber es hat mir auch gezeigt: Es gibt noch so viele Lieblingsplätze auf der Welt, die wir noch nicht entdeckt haben. Viele tolle Menschen, die wir noch nicht kennengelernt haben. Und je mehr Jahre wir leben, desto mehr Orte haben wir in uns, die unser Leben größer machen und zu denen wir – Katastrophen ausgenommen – immer wieder zurückkehren können. Wir müssen uns nur auf sie einlassen.
„Will you come back to Lebanon?“, fragte mich der Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen.
„I don’t know“, antwortete ich.
„I’m sure you will“, sagte er und steuerte den Wagen auf den Flughafen zu. „I’m very sure you will.“
Fotos: Eva Fischer / Badaro, Beirut 2022
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