Einen Roman schreiben und worum es dabei geht

Mit einem Notizbuch aus Paris im Parc Cinquantenaire in Brüssel

 

Es ist die große Frage: Findet etwas uns oder müssen wir es finden?

Können wir das Leben bekommen, das wir uns wünschen? Oder gibt es dafür doch zu Vieles, auf das wir keinen Einfluss haben?
Fügt sich alles so, wie es sich fügen soll? Scheitert, was scheitern soll, egal was wir tun? Oder sind es doch wir selbst, die das Ende herbeiführen?
Ob ein Plan aufgeht oder nicht, liegt das allein an unserem Können? Oder doch eher an dem Zusammenspiel der Entscheidungen all der Menschen, mit denen wir uns die Welt teilen?

Dies sind die ersten Zeilen des ersten Kapitels. Von dem Roman, an dem ich arbeite.

Ich werde oft gefragt, worum es geht: Ist es ein Krimi? Etwas Historisches? Ein Liebesroman?
Nein, das ist es alles nicht. Als Generation-Y-Roman habe ich es mal in meinem Französischkurs bezeichnet, als Entwicklungsroman andere Male in verschiedenen Gesprächen.

In der Tat trifft es Entwicklungsroman am besten:

Denn es geht um

die Einsamkeit in einer neuen Stadt,
um unerwiderte Liebe, Ghosting,
Selbstzweifel und Schreibblockaden.
Um Journalismus und teuflische Kollegen,
Überforderung, Aufgeben,
um Wachstum und Zufälle.
Um die Frage, welches Leben wir führen wollen,
und ob wir dieses Leben auch bekommen können.

Und um das besondere Band zwischen Großeltern und Enkeln
– das auch über den Tod hinaus bleibt.

Die Handlung erstreckt sich über fünf Jahre hinweg. Hauptschauplatz ist Brüssel mit zusätzlichen Szenen in Hamburg, Paris und Straßburg. Es gibt auch welche, die in Belgrad und Skopje spielen – aber vielleicht schmeiße ich sie auch wieder raus.

Wie ich nämlich schon allerhand wieder rausgeworfen habe.

Und wie ich bisweilen überlegt habe, das komplette Vorhaben zu verwerfen.

Notizbuch-Chaos

Denn manchmal zweifle ich, ob es etwas wird. Ob meine Geschichte funktioniert. Ob das Ganze lesenswert ist.
Dann finde ich, dass sich meine Protagonistin einfach nur bescheuert verhält und einzelne Textabschnitte geradezu peinlich sind.
Mal ist mir meine Idee zu simpel, mal halte ich sie für zu kompliziert: zu viele Figuren, zu viele Jahre, zu viele Unterthemen.

Dazu kommt: Ich habe mich im wahrsten Sinn des Wortes komplett verzettelt.
Vier Word-Dokumente sind derzeit in meinem Buch-Ordner gespeichert: eins für den Anfang, eins für den Mittelteil, eins für das Ende und ein viertes für einen Handlungsstrang, der zum Anfang gehört, über den ich aber noch genauer nachdenken muss.

Ich habe mehrere vollgeschriebene Notizbücher, die ich noch nicht digital übertragen habe; zudem zahlreiche Notizen auf dem Handy. Halbe Dialoge, die woanders abgespeichert sind, als die noch halbfertigen Szenen, die dazugehören.

Einmal habe ich vergessen, dass ich eine Szene schon geschrieben hatte (in einem anderen Notizbuch), und schrieb sie somit freudig ein zweites Mal auf. Einer Nebenfigur habe ich versehentlich mehrere Namen gegeben. Jetzt heißt sie in manchen Textabschnitten so und in anderen so. Uff.

Immer wieder vergehen Wochen, in denen ich gar nicht geschrieben habe, weil ich anderweitig beschäftigt bin, mein Kopf voll mit anderen Dingen ist. So komme ich nur sehr langsam voran und verliere zudem immer wieder den Faden.

Ich Chaotin müsste einmal alles detailliert sichten und zusammentragen, eine Excel-Datei mit Szenen- und Figurenregister anlegen. Allgemein mehr nach Plan arbeiten, disziplinierter.
Aber das ist nicht so leicht, wenn man mal hier ist und mal dort und sich das Material woanders befindet.

Zweifel gehören dazu

In dieses Chaos schleicht sich dann der Gedanke ein: Ich bin es komplett falsch angegangen. Ich habe zu groß gedacht. Ich habe mir mal wieder zu viel vorgenommen.

Aber: Zweifel gehören zum kreativen Schaffensprozess dazu.
Außerdem: Seitdem ich ein Kind bin, habe ich mich immer wieder darin versucht, einen Roman zu schreiben. Immer wieder angefangen, eine große Geschichte aufzuschreiben. Kapitel 1,2,3.

So viel geschrieben wie nun, habe ich allerdings noch nie. Ich bin noch nie so lange drangeblieben. Nicht einmal ansatzweise.
Ich bin noch nie so weit gekommen.

Und letztlich ist es auch egal, ob am Ende ein fertiger, guter Roman vor mir liegt.

Weil es darum nicht geht.

Sondern um die Geschichte, die irgendwann über mein Leben erzählen will.

Ein Schriftstellerinnen-Leben für eine Weile

Wie ich in den Cafés und Parks von Brüssel saß, um eine Geschichte aufzuschreiben, die von dieser Stadt handelt.

Wie ich dann gereist bin, diese Geschichte weiterschrieb, und sie sich dabei weiterentwickelte, obwohl ich eigentlich schon ein Ende hatte. Weil ich mich selbst auch immer wieder weiterentwickle und dadurch meine Ideen immer besser werden.

Wie ich einfach eine Weile nicht gearbeitet habe, um stattdessen ein Schriftstellerinnen-Leben zu führen.

Ein Leben, in dem ich mit meinen Notizbüchern in Cafés saß und schrieb: in Beirut und Istanbul, in Helsinki, Tallinn, Riga und Vilnius, in Belgrad, Paris, Marrakesch und an noch viel mehr Orten.

Wie ich in Bibliotheken saß, umgeben von alten Büchern wie im Lesesaal der BNF Richelieu in Paris, oder mit Blick auf den Fluss und die Skyline der Stadt, die in dem Fall Riga war.

Es ist eine Geschichte mit lauter kleinen Details:

Ein anderer Café-Besucher, der in Vilnius zu mir sagt, wie schön das sei, dass ich dort sitze und in ein Notizbuch schreibe. Überhaupt Notizbücher: Bunte Einbände mit leeren Seiten, die ich in Brüssel, Paris oder Düsseldorf kaufe und andernorts mit meinen Sätzen fülle.

Ein Ukrainer, den ich in Chisinau kennenlerne, dem ich moldauischen Wein trinkend auf einer Hollywood-Schaukel erzähle, was ich gerade mache, und der sagt, wie gerne er das Buch mal lesen möchte.

Eine Ägypterin, der ich im Libanon begegne, wo sie für mich Arabisch-Dolmetscherin spielt, und die zufällig den gleichen Namen trägt wie meine Protagonistin.

Mein toller, lustiger Französischlehrer, der meine Selbstvorstellung vor den neuen Kursteilnehmern mit dem Satz ergänzt: „Et elle écrit un roman.“

Ich, wie ich in Bilbao im Museum vor einem Gemälde stehe, und plötzlich kann ich eine Szene noch viel detaillierter beschreiben.

Und Jemand in Brüssel, der sagt: „Du lebst mein Traumleben.“

Das Coolste überhaupt

„Ich finde gar nicht, dass es ein Versagen wäre, wenn du am Ende doch kein Buch geschrieben hast“, sagte meine ältere Schwester zu mir, als ich mal wieder meine Zweifel hatte.
„Du machst gerade einfach das, worauf du Bock hast. Und wenn du irgendwann keinen Bock mehr darauf hast, dann machst du eben etwas anderes. Die Freiheit zu haben, einfach das zu tun, was du gerade willst – das ist doch das Coolste überhaupt.“

Ja, das ist es. Das Coolste überhaupt. Die coolste Geschichte über mein eigenes Leben, das ich zu dieser Zeit gerade schreiben konnte.

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